Ein ereignisreiches sowie herausforderndes Jahr neigt sich dem Ende zu. Die Auswirkungen auf  die offene Kinder- und Jugendarbeit waren in verschiedener Hinsicht zu spüren. Es lohnt sich daher, insbesondere auf die mediengestützte Arbeit zurückzublicken und ein erstes Fazit zu ziehen. Die Erfahrungen welche sich aus diesem Jahr ergeben haben, bieten viele Chancen, um die Weiterentwicklung unseres Feldes hinsichtlich digitaler Medien selbst-, und nicht durch die Technik, bestimmt anzugehen. Im folgenden Artikel werde ich meine Erfahrungen reflektieren und ein Fazit ziehen. Dafür ziehe ich meinen Arbeitsalltag, eine Umfrage aller Teams der Offenen Jugendarbeit Zürich, sowie viele gehörte und gelesene Erfahrungen von anderen Jugendarbeiter*innen mit ein.

Parallel zu meinem Bericht aus der Praxis, in dem ich mich an Thesen von Eike Rösch orientiere. Formuliert er aus seiner Sicht (https://eike.io/between-the-waves-lernen-aus-der-coronazeit-fuer-digitale-jugendarbeit/), was er an Studien, Berichten, Reflexionen und Erfahrungsberichten aus der Praxis in diesem aussergewöhnlichen Jahr mitgenommen hat.

Natürlich freue ich mich über alle Rückmeldungen, Anregungen und Kritik! Gerne könnt ihr die Artikel kommentieren oder uns schreiben.

1. Die Grundprinzipien von (Offener) Jugendarbeit geraten in Bedrängnis

Die Prinzipien Niedrigschwelligkeit und Freiwilligkeit waren durch die mediatisierte Jugendarbeit eingeschränkt. Zum einen waren nicht alle Jugendlichen technisch für den Zugriff auf unsere Angebote gerüstet. Zum anderen kommunizierte die Offene Jugendarbeit nicht immer jugendgerecht (Z.B. zu viel „schriftliche“ Informationen). Bezüglich Freiwilligkeit war immer wieder Sensibilität gefragt. Beispielsweise die Jugendlichen nicht dazu zu drängen mit Jugendarbeitenden online zu gamen, sondern sie zu informieren, dass man ein Spiel selbst spielt und offen für eine gemeinsame Spielrunde wäre.
Durch das Contact Tracing wurden die Prinzipien ebenfalls bezüglich dem Umgang mit Datenschutz ein Thema. Jugendliche müssen ihre Daten angeben, um an unseren (nicht mediatisierten) Angeboten teilnehmen zu dürfen. Dabei können wir nicht zu hundert Prozent ausschliessen, dass die Daten von Externen zu anderen Zwecken nachgefragt werden.

Die lebensweltliche Orientierung hingegen war während und nach dem Lockdown gut möglich. Online konnte man auf Social-Media-Plattformen Präsenz zeigen und Aufsuchende Jugendarbeit war mehrheitlich ohne grössere Einschränkungen möglich. Interessanterweise hatte man mit Jugendlichen welche man draussen antraf, auch öfters online Kontakt.

Partizipatives Arbeiten und informelle Bildung stellten sich während des Lockdowns als herausfordernd dar. Jugendliche sprachen aus verschiedenen Gründen wenig auf unsere (online) Angebote an: via Bildschirm wurde Schulstoff vermittelt, lief das Freizeit-Unterhaltungsprogramm und natürlich die Kommunikation mit Freund*innen. Hinweise auf eine „Übernutzung“ von Bildschirmmedien konnte man insofern beobachten, dass Spielkonsolen im Jugendtreff von Mai bis weit in den Sommer nicht genutzt wurden.

Bezüglich der nicht optimalen Online-Bildung musste man sich, nebst oben genannten Gründen, eingestehen, dass das pädagogische Rüstzeug für Online-Wissensvermittlung eher ausbaufähig war. Viele Jugendarbeitsstellen sind gewohnt ergänzendes Wissen bereitzustellen, selbst Wissen zu „produzieren“. Spannend wäre es, dies mit einem „Offline“-Angebot zu verknüpfen. Beispielsweise Kurse zu „Musik produzieren“, die dann im Studio des Jugendzentrums live ausprobiert werden können. Dies böte auch grosses Potential Jugendliche in verschiedenen Rollen (Redaktion, Technik, Wissensvermittler*in) miteinzubeziehen. Und natürlich spricht eine lokale, quartierbezogene Jugendarbeit so auch Jugendliche ausserhalb des Einzugsgebietes an. Ob sie dies will und darf muss sie mit dem Auftraggeber absprechen. Gerade digitale Angebote bieten aber die Chance, über die eigene Region hinaus zu denken, was neue Perspektiven eröffnen kann (Entwicklung von Angeboten mit anderen Jugendarbeitsstellen).
Trotz aller Hürden und Schwierigkeiten, sollte also das Potential der Online-Bildung nicht unterschätzt werden.

2. Zugang und Niedrigschwelligkeit sind die grössten Herausforderungen

Sind Digitale Räume hochschwellig!? Hochschwelliger als reale Räume? Alle Jugendarbeiter*innen versuchten diesen Frühling herauszufinden wo diese Hürden bestehen und wie sie sich überwinden lassen. Je nach Angebot gelang dies besser oder schlechter. Dies konnte von verschiedenen Faktoren abhängen:

  • Waren Jugendarbeitenden technisch gut ausgerüstet (bspw. Geschäfts-Smartphone, Zugriff von zu Hause auf den Institutions-Server)?
  • Waren Teams bezüglich IT- und Social-Media-Wissen gut aufgestellt? Ist die Offene Jugendarbeit routiniert in der mediatisierten Arbeit? Gibt es eine Strategie diesbezüglich?
  • Hatte die OJA bereits viele Onlinekontakte/Follower*innen?
  • Ist sie für Jugendlichen online gut erreichbar (bsp. zeitnahes Antworten, Jugendgerechte Kommunikation, persönliche- und nicht „Institution‘s“-Profile)? Zeigten isch Jugendarbeiter*innen online nahbar?
  • Kommunizierte man jugendgerecht (Visuell) oder eher mit (viel) Text?
  • Waren Jugendarbeiter*innen innovativ und offen für neue Herangehensweisen? Wieviel Ausdauer/Optimierungswille zeigten sie, wenn sich die Wirkung nicht einstellte?
  • Waren die Angebote interaktiv? Wurden die Jugendlichen (bereits vorher und/oder partizipativ) in die digitalen Angebote miteingebunden?
  • Bot die Offene Jugendarbeit (bereits vorher) spezifische Angebote wie Youtube-Channels oder Online-Radios an?
  • Gab es während des Lockdowns parallel zur online Kommunikation auch Kontakt in der Realität (bspw. im Rahmen der Aufsuchenden Jugendarbeit)?

Diese und viele weitere Punkte entschieden über die Niedrigschwelligkeit eines Angebots. Und auch wenn man viele von diesen erfüllte, konnte es sein, dass Angebote kaum auf Anklang stiessen. Beispielsweise aufgrund des Faktors Beziehung und anderer Ursachen (siehe Punkt 3).

Der Zugang war insbesondere für Jugendliche, welche verstärkt Bedarf an Jugendarbeit hatten, erschwert. Laut JAMES-Studie 2018 besitzen 99% der über 12-jährigen ein Smartphone, sowie über 97% mindestens ein Computer/Notebook im Haushalt. Meine Erfahrung zeigt, dass insbesondere Jugendliche mit sozioökonomisch schwachem Status höchstens ein Arbeitsgerät (für mehrere Kinder/Jugendliche) in einem Haushalt nutzen können. Ausserdem sind die Geräte zwar vorhanden, aber oft langsam und technisch veraltet. Und mit einem Smartphone (das auch nicht alle hatten) liess sich nicht an allen Angeboten teilnehmen. Zusätzlich fehlt diesen Jugendlichen oft einfaches Wissen, wie eine eigene Email zu erstellen, ein Programm zu installieren oder im Word einfache Formatierungen vorzunehmen.
Wenn selbst in der einfachsten Berufslehre Computerkenntnisse gebraucht werden (Mails versenden, Arbeitsrapporte schreiben), kann man sich in etwa vorstellen was dies für die Zukunftschancen der betroffenen Jugendlichen bedeutet. Immerhin liehen, jedenfalls bei uns in Zürich, einige Schulen Geräte an diese Schüler*innen aus.
In einem gewissen Masse kann die Jugendarbeit dazu Angebote bereitstellen. Beispielsweise in dem sie in ihren Räumlichkeiten Technik und Wissen anbietet. Sei es im Kreativen wie Musik oder Film, bezüglich IT (Programmieren etc.) oder auch bei der Online- Recherche für die Schule oder Berufswahl.

Übrigens funktionierte nach dem Lockdown der Übergang digital zu analog, trotz der Hürde, dass sie sich vorher online für ihren Besuch anmelden mussten, bei uns in Oerlikon ziemlich reibungslos. Ein Grund könnte sein, da wir bereits vor Corona via Social-Media-Plattformen gut erreichbar waren. An anderen Orten scheint dieser Prozess nicht so einwandfrei funktioniert zu haben und die Jugendlichen sind erst mit dem Wegfallen dieser Anmeldehürde wieder im Jugendtreff erschienen.

3. Beziehung ist alles

Ohne Beziehung ist es schwierig bis unmöglich online Kommunikation aufzubauen, gar partizipativ zu arbeiten. Auch das Erhalten bestehender Beziehungen über das Internet, zeigt sich als schwierig bis unmöglich. Vielleicht war es vielen Jugendlichen zu intim, einfach mal so spontan online mit einem*r Jugendarbeiter*in in Kontakt zu treten. Wahrscheinlich hatten Jugendliche im Frühling allgemein eine hohe Dosis an Bildschirmzeit, so dass sie selten Lust auf Online-Angebote der OJA hatten. Und das Bewusstsein, dass das Meiste an Kommunikation in digitalen Räumen gespeichert bleibt, kann ferner abschreckend wirken. Ausserdem sollte man nicht unterschätzen, dass die wichtige Information für menschliche Kommunikation – die Mimik des Gegenübers – digital oft schwierig bis unmöglich zu deuten ist. So ist es herausfordernder, auf jemanden zuzugehen und mit jemandem direkt in einen digitalen Kontakt zu treten. Eine nicht abgesprochene Kontaktaufnahme kann so als zu intim wahrgenommen werden. Digital sind allgemein soziale Regeln nicht so klar. Wie präsent ist man? Denn die Versuchung ist gross, sich nebenbei mit etwas anderem als nur dem Gegenüber zu beschäftigen. Dies alles hat Einfluss auf eine gelingende „Digital-Beziehung“.

Die im Frühling aufgebaute Instagram-Plattform #stressdihei zeigte immerhin, dass bei hohem Leidensdruck Onlinehilfe von einem/einer „Unbekannten“ durchaus geschätzt wurde. Dies zeigt auch das Angebot Beratung + Hilfe 147 der Pro Juventute (www.147.ch).

4. Jugendarbeit ist (noch mehr) in Bewegung

Mitte März wurden Ziele – Bspw. Einblick in Lebenswelt, Kontakt halten, Beziehung stärken, (Präsenz)Angebot als Anlaufstelle, Unterstützung leisten, partizipativer Einbezug Jugendlicher – zackig formuliert oder zumindest mitgedacht. Wie gewohnt reagierte die Offene Jugendarbeit schnell auf eine neue Ausgangslage. Positiv daran war, dass viel Neues ausprobiert wurde und man wagte damit zu scheitern. Schnell zeigte sich jedoch, wie wenig Wirkung, ja gar Resonanz man teilweise auf einige Angebote erhielt. Ich stellte jedoch fest, dass viele Teams sich bald auf Funktionierendes fokussierten. Auch wenn so die Innovation etwas auf der Strecke blieb. Jedenfalls fand ich‘s definitiv sinnvoll, dass Jugendarbeitende zum Schluss kamen, nicht auf allen von Jugendlichen genutzten Plattformen, aktiv sein zu müssen.

Es stellten sich jedoch immer wieder Fragen, welche sich teilweise hemmend auf Motivation und Innovationsgeist auswirkten: Wie sieht’s mit Urheberrechten aus? Wie sollten Quellen angeben werden? Datenschutz, Nutzung, Plattformen, – sprich der Umgang mit dem Dilemma, der Lebensweltorientierung versus dem Datenschutz. Wie geht man mit der Datensicherheit und Handhabung Passwörter, Persönlichkeitsschutz der Mitarbeiter*innen um. Was zeigt man von sich online bzw. ist man bereit zu zeigen. Muss man!? Trennung von Privat und Arbeit im allgemein: Plötzlich war Wohnraum und Arbeitsbüro derselbe Ort. Und nicht zuletzt: Finanziert der/die Arbeitgeber*in Teile der Ausgaben für Technik und Infrastruktur welche man benötigt, um von zu Hause aus zu arbeiten?

Auch war es nicht einfach erbrachte Leistungen mediatisierter Arbeit und deren Wirkung für den*die Arbeitgeber*in/Geldgeber*in abzuschätzen, festzuhalten und aufzuzeigen. Ausserdem passierte Vieles parallel und zwischen anderen Leistungen, was so vergessen ging.

Das Wissensmanagement ist nach wie vor auf allen Ebenen (Institution, Regional, National) ausbaufähig. Vieles ist bereits vorhanden. Jedoch ist es herausfordernd, den Überblick zu behalten. Ausserdem findet meines Wissens seitens der Soziokulturellen Animation kaum Austausch mit weiteren Berufsfeldern der Sozialen Arbeit oder der Sozialpädagogik statt. Vielleicht sind diese mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert und haben bereits Lösungsansätze!?

Fazit

Die Jugendarbeit bewies im Jahr 2020 einmal mehr, wie flexibel und schnell sie auf Veränderungen reagieren kann und wie sie auch unter widrigen Bedingungen ihre Angebote aufrechterhalten kann. Klar – Einiges ist online auf wenig Resonanz gestossen. Insbesondere selbst produzierte Inhalte oder analoge Angebote wie den Treff zu „digitalisieren“. Ebenso hat das partizipative Einbinden eher mittelmässig geklappt.

Trotzdem gab es einige auf lokale Bedürfnisse angepasste Projekte welche durchaus funktioniert haben. Viele Jugendliche waren froh um die angebotene Onlineberatung und -hilfe. Ausserdem konnte so von Jugendarbeiter*innen viel Erfahrung in der mediatisierten Arbeit gesammelt werden.  Mit diesem Wissen und aus diesem Jahr gewonnene Selbstvertrauen muss das Berufsfeld nun mit gestärkten Rücken Strategien entwerfen und wirkungsvolle Methoden (weiter-)entwickeln, um gesteckte Ziele zu erreichen.

Um die Offene Jugendarbeit weiterzuentwickeln und Jugendarbeiter*innen weiterzubilden, sollte nun der Fokus lokal in Institutionen, sowie in Regionen darauf liegen, zu schauen wie das erlernte Wissen (künftig) gesichert und geteilt werden kann. Dies kann auf der Ebene eines/einer Spezialist*in im Team, im regionalen Netzwerk, in Zusammenarbeit mit Fachhochschulen oder gar interdisziplinär gedacht und getan werden. Unter anderem damit Wissen künftig weniger bei einzelnen Personen ist und mehr Engagierte mit höherer Diversität das Ganze (überregional) vertreten und vorantreiben.
Um allgemein die Mediatisierung der Sozialen Arbeit selbstbestimmt und zielgerichtet vorantreiben zu können, wäre es ausserdem wünschenswert, sich schweizweit Sozialarbeitsübergreifend auszutauschen.

Abschliessend bleibt zu sagen, dass mediatisierte Jugendarbeit noch zu oft als isoliertes Thema angesehen wird. Es wird zu wenig erkannt, dass das Digitale in alle Bereiche miteinfliesst. Unter dieser Prämise wird es jeweils schnell wieder von anderen Alltagsthemen überlagert. Eventuell wäre diese Feststellung ein gutes Argument, um künftig mehr Rückendeckung beim/bei der Arbeitgeber*in, sowie mehr Mittel für die mediatisierte Arbeit, einzufordern?!

Quellen

https://www.zhaw.ch/de/psychologie/forschung/medienpsychologie/mediennutzung/james/#c115250

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